Das Recruiting von IT SpezialistInnen war zumindest die letzten Jahre schon eine Herausforderung. Post & Pray bringt schon lange nichts mehr, aber auch PersonalvermittlerInnen und interne Sourcingabteilungen tun sich zunehmend schwer, die offenen IT Positionen zu besetzen. Jedes Unternehmen hat mindestens eine Handvoll offener IT Jobs, die seit Monaten oder Jahren nicht besetzt sind. An der Situation hat auch Corona nichts geändert. Und auch wenn es aktuell Studien gibt die behaupten, 2/3 aller ArbeitnehmerInnen wollen „nach Corona“ den Arbeitgeber wechseln … diese Antwort eines IT Spezialisten auf eine Anfrage im Rahmen eines Personalberatungsprojektes zeigt, dass das Recruiting von IT SpezialistInnen (und anderen sicherlich auch) nie mehr wird wie früher.
Recruiting von IT Spezialisten – die Realität des Marktes
Als Personalberatung besetzen wir aktuell mehrere HR IT Positionen für unsere Kunden. Auf der Suche nach eine/r/m ProjektmanagerIn für die globale Einführung der HR IT Suite bekam meine Mitarbeiterin Rebekka Mischke die Tage eine Antwort, die uns zeigt, was am Arbeitsmarkt gerade los ist und was in Zukunft auf uns zukommen wird.
Welche Informationen können wir aus dieser Nachricht herauslesen?
- IT SpezialistInnen bekommen inzwischen zu viele Anfragen / Jobangebote und reagieren oft gar nicht mehr.
- Mit einer hoch individualisierten Ansprache können RecruiterInnen immerhin noch einen Unterschied machen, werden dadurch vielleicht doch noch eher wahrgenommen und haben die Chance auf einen Dialog.
- IT SpezialistInnen können inzwischen fast alles an Arbeitsbedingungen aushandeln. Einfach, weil sie wissen, wie gefragt sie sind und dass sie ohne große Probleme einen neuen Job finden werden.
- Clevere ArbeitgeberInnen haben das verstanden und darauf reagiert. Vier Tage / Woche UND 32 Tage Urlaub?!! Wo muss ich unterschreiben?
- Wer (sehr) zufrieden mit seiner Arbeit, den Chefs und KollegInnen ist – der wechselt nicht. Warum auch? Für 5.000 Euro mehr Gehalt? Ab einem gewissen Gehaltsniveau zieht das auch nicht mehr. Der neue Jobs ist „super spannend“? Na und? Der alte auch!
- 100% Remote Arbeiten scheint noch nicht überall möglich zu sein, könnte manche ArbeitnehmerInnen aber offensichtlich zum Nachdenken bringen. Das alles entscheidende Kriterium ist es aber sicherlich nicht.
Recruiting von IT Spezialisten – geht, aber wird schwieriger
Jetzt verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich sage nicht, dass es unmöglich wird, IT SpezialistInnen für sich zu gewinnen. Das wäre völliger Humbug. Denn die Erfahrung und das Leben zeigen: Es gibt immer jemanden, der/die gerade wechseln will. Und wenn dann das richtige Angebot um die Ecke kommt, dann klappt es auch. Es ist sogar noch möglich, über XING (!!!) Java EntwicklerInnen zu finden und für einen Wechsel zu bewegen, wie wir gerade erfreut feststellen durften. Damit hatte ich eigentlich gar nicht mehr gerechnet. Aber hier passte alles: Der Standort, die Aufgaben, das Gehalt – und da war schon längerfristig diese latente Unzufriedenheit im Job, die dann zum Interesse am Jobangebot geführt hat. Und tatsächlich halten in manchen Unternehmen aufgrund corona-bedingter wirtschaftlicher Schwierigkeiten gerade ein paar mehr ArbeitnehmerInnen die Augen offen und sind wechselbereit. Wir konnten z. B. eine HR IT Stelle innerhalb von zwei Wochen besetzen. Zwei weitere in sechs Wochen. Für eine andere Position suchen wir aber auch schon seit fünf Monaten. Für eine Position mussten wir 180 „KandidatInnen“ ansprechen, um am Ende fünf BewerberInnen zu bekommen. Es geht immer etwas. Aber der Aufwand ist teils enorm und es wird aus meiner Sicht auch immer schwerer.
Woran liegt das und was können wir daraus lernen? Schauen wir uns nochmal die oben aufgeführten Punkte an und versuchen eine Zusammenfassung:
Es gibt zu viele Jobangebote für zu wenig „fertige“ IT SpezialistInnen. Mit diesen Jobangeboten wird die Zielgruppe jeden Tag bombardiert. Leider, wie wir aus Gesprächen wissen, zu oft auch mit unpassenden Job. Und zu oft mit gedankenlosen Massenmailtexten, auf die einfach niemand Lust hat. Diese drei Faktoren „zu viel, unpassend, nicht individuell“ führen dazu, dass pauschal (fast) alle Nachrichten von RecruiterInnen ignoriert werden. Wir RecuiterInnen schaden uns also nur selber mit diesem Vorgehen. Naja, kein Wunder, wenn ein Kriterium, an dem RecruiterInnen gemessen werden, die Anzahl der verschickten Nachrichten ist. Es lebe der blinde Glaube an KPIs. Manchmal ist etwas mehr Vertrauen in die eigenen MitarbeiterInnen sinnvoller.
Und selbst wenn „mein“ Jobangebot perfekt zu den Fähigkeiten und Erfahrungen meines „Wunschkandidaten“ passt: Warum sollte er/sie wechseln, wenn er/sie zufrieden ist? Gute ArbeitgeberInnen kümmern sich inzwischen besser um ihre MitarbeiterInnen als früher. Und die wenigsten Menschen wollen permanent wechseln, selbst wenn sie die Möglichkeiten dazu haben.
Wir können machen, was wir möchten, es bleibt dabei: Es gibt zu wenig „fertige“ IT SpezialistInnen für zu viele Jobs. Das ist das Problem und das wird auch in den nächsten Jahren nicht anders werden, eher im Gegenteil. Und das werden wir auch mit dem bisherigen Vorgehen nicht lösen. Dafür brauchen wir andere Hebel, wie ich in meinen letzten Blogartikeln / Podcast zum Thema Recruiting und Führung schon angemerkt habe.
Recruiting von IT SpezialistInnen – so kann es gehen
Es gibt ein paar ganz klare, aber auch nicht ganz einfache Hebel, um unser Recruitingproblem zu lösen. Die können aber nicht die RecruiterInnen bedienen. Diese Hebel können nur vom Management in Gang gesetzt werden.
Wir müssen aufhören, die „fertigen, 100% passenden“ KandidatInnen zu suchen. Stattdessen müssen Unternehmen bzw. konkreter: Führungskräfte! anfangen, die „Unfertigen“ einzustellen und auszubilden. Und damit meine ich nicht nur die jungen Menschen, die gerade erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Dass die ausgebildet werden müssen, hat jeder verstanden. Nein, damit meine ich auch Menschen, die schon 10 oder 20 Jahre Berufserfahrung haben und jetzt für sich merken, dass sie gerne mal etwas anderes machen wollen. Der bekannte Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm schreibt in seinem Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft„:
Für viele ist das Alter zwischen dreizig und vierzig Jahren zum Lernen weit geeigneter, weil man die Dinge auch versteht, anstatt sie nur auswendig zu lernen, und häufig ist auch das Allgemeininteresse in späteren Jahren größer als in der stürmischen Periode der Jugend. Etwa in diesem Alter sollte es auch jedermann freistehen, seinen Beruf völlig zu ändern …
Ich glaube wir sind uns alle einig, dass dieses Denken in den Köpfen der allermeisten Führungskräften bisher noch nicht vorhanden ist. QuereinsteigerInnen sind nicht willkommen. Erst Recht nicht für Spezialistenpositionen. Dabei ist Spezialistin werden eigentlich ganz einfach: Sie müssen etwas nur lange genug tun! Die Frage muss daher sein: Bringt jemand die nötigen Voraussetzungen an Intelligenz, Willen, grundlegenden Fähigkeiten und benötigten Persönlichkeitseigenschaften mit, um sich den neuen Stoff / die neuen Fertigkeiten anzueignen und lange genug dabei zu bleiben, um zum/r SpezialistIn zu werden? Diese Frage verlangt aber eine ganz andere Personalauswahl. Eine, die nicht danach fragt, ob das richtige Keyword im Lebenslauf steht und ob jemand schon das Fachwissen X hat.
Wir müssen eine Arbeitsumgebung schaffen, die keine „natürlichen Hürden“ mehr aufbaut. Was sind diese natürlichen Hürden? Die Entfernung zum Arbeitsplatz / der Standort des Arbeitsplatzes an sich. In unseren Sourcing Projekten sprechen wir immer wieder mit Menschen, die den jeweiligen Job sehr gerne machen würden. Aber ihn aufgrund fehlender Mobilität nicht antreten können oder wollen. Wer, wie eigentlich alle Wissensarbeiter, in der Corona Krise die 100% Home Office Regelung kennen- und schätzen gelernt hat, der ist fast überhaupt nicht mehr bereit, für den Job umzuziehen oder lange Fahrtwege in Kauf zu nehmen. Nochmal, ich rede hier von IT SpezialistInnen, die fast überall einen neuen Job bekommen. Kaum jemand zieht um, wenn er/sie es aus Existenzgründen nicht muss oder nicht gerade aus privaten Gründen in die Region möchte. Erst Recht nicht mit Familie. Und viele merken jetzt, wieviel Zeit ihnen die tägliche Pendelei ins Büro und zurück von ihrem Privatleben / ihrer Familie geraubt hat. Wer möchte denn „nach Corona“ noch zwei Stunden am Tag im Auto oder der Bahn verbringen? Doch wohl die wenigsten.
Die Konsequenz: Den Arbeitsplatz so flexibel gestalten wie möglich. Wenn meine MitarbeiterInnen nicht mehr zwingend ins Büro kommen müssen, dann kann ich in Berlin auch jemanden aus Augsburg oder Bielefeld einstellen. Und damit wird mein Suchradius weiter und ich kann wieder mehr IT SpezialistInnen für meine Jobs ansprechen. Ich kenne eigentlich nur RecruiterInnen, die das sofort möglich machen würden. Nur, auch das ist wieder etwas, das vom Management entschieden wird. Recruiting ist ein Führungsthema!
Eine weitere Hürde ist die gemeinsame Arbeitssprache. Auch wenn ich selber einer von vielen bin, der sich aufgrund zu geringer Praxis mit Englisch als Arbeitssprache schwer tut und auf Deutsch immer 100 Mal besser kommunizieren wird als in jeder anderen Sprache: Nehmen Sie die Sprachhürde Deutsch weg – und sie erweitern Ihren Recruitingradius ins fast Unendliche. Ja, ich weiß, es gibt Jobs, da ist es nur schlecht möglich. Bei Jobs mit deutschsprachigem Kundenkontakt z. B.. Aber in vielen anderen jobs würde es gehen. Nur, damit müssen Unternehmen auch Englisch als interne Arbeitssprache stärker fördern. Und auch das ist wieder eine Managemententscheidung.
Wissen Sie, was ich glaube? Das Thema Home Office / 100% flexibles Arbeiten wird sich durch den Markt von selbst klären. Eine Präsenzkultur wie vor Corona wird kaum ein Unternehmen mehr aufrecht halten können. Englisch als Arbeitssprache wird sich auch weiterhin nicht in der Masse durchsetzen. Klar, in den internationalen Konzernen und Unternehmen, die vor allem Kunden im Ausland haben, ist das schon lange kein Thema mehr. Aber beim Rest der deutschen Wirtschaft? Ich glaube da nicht dran.
Den größten Hebel werden wir alle haben, indem wir nicht mehr nach den „fertigen“ SpezialistInnen suchen.
Karrieren entstehen sowieso völlig zufällig. Ich rutsche als BerufsanfängerIn ins Marketing rein und weil alles läuft und sich immer was Neues im Marketing ergibt, bleibe ich dort. Aber könnte ich nicht auch was anderes? Doch, sehr sehr sehr wahrscheinlich könnte ich auch etwas ganz anderes! Ich habe es nur noch nie gemacht. Aber was hindert mich, mal einen anderen Weg einzuschlagen? Vor allem die Arbeitgeber, die niemanden möchten, der den Job noch nie gemacht hat, den er/sie bei ihnen machen soll. Das zu ändern ist der größte Hebel den wir haben. Und den wir selber ändern können. Wir müssten nur damit anfangen. Oder? Zugegeben, der Weg dahin ist deutlich mühsamer. Denn zum Einen müssen wir unsere Personalauswahl anders aufbauen. Und zum Anderen müssen wir aufhören davon auszugehen, dass ArbeitnehmerInnen ihren bisherigen Berufsweg einfach linear fortsetzen möchten. Stattdessen müssen wir sie fragen, was sie eigentlich möchten. Aufwändig? Ja, absolut! Aber, mit wieviel Aufwand versuchen Sie seit Monaten, die eine oder andere IT Position zu besetzen? Das dürfte sich ziemlich ausgleichen, oder?
Vielen Dank fürs Lesen – und viel Spaß beim Anfangen. Es wird ein weiter Weg, keine Frage. Aber ich glaube, wir haben keine Alternative mehr.
Herzlichen Gruß,
Ihr Henrik Zaborowski
Das hat vor 5 Jahren schon begonnen. Alle haben sich wie wild auf XING und Co. gestürzt ohne ein Profil richtig lesen zu können.
Der Slogan „War for talent“ stammt by the way aus 1997.